Dass Harz körperliche wie seelische Wunden schließt, weiß niemand so gut wie Robert Rendl. Eine schwere Lebenskrise eröffnete dem Pecher die Welt und Wirkung von Baumharz.
Eine Quelle plätschert leise vor sich hin. Aus allen Richtungen hört man das einhellige Zirpen von Grillen. Aus der Ferne ertönen Kuh- und Kirchenglocken und auf einer Wildblumenwiese rangeln summend und brummend Bienen, Hummeln und Schmetterlinge um den Nektar der Blüten. Eine Wand aus stattlichen Nadelbäumen, darunter Schwarz- und Weißkiefer, Fichte, Tanne und Zirbe, hebt sich majestätisch vom Horizont ab.
An einem sommerlichen Junitag im niederösterreichischen Piestingtal finde ich mich an der Seite eines Mannes wieder, der an die heilende Kraft von Bäumen glaubt. Robert Rendl ist der letzte hauptberuflich arbeitende Pecher (dt. Harzer) in Österreich. Das traditionsreiche Handwerk, zu dem es kaum Nachschlagewerke gibt, wird seit 2011 von der UNESCO als Immaterielles Kulturerbe gelistet. Bis in die 1970er-Jahre hat die Gewinnung von Baumharz die Region wirtschaftlich und kulturell geprägt. „Viele Familien haben über Jahrhunderte mit der Pecherei ihr täglich Brot verdient“, erzählt Robert Rendl, der selbst durch einen Zufall zu ihr fand. Er spricht mit ruhiger, warmer Stimme und macht einen besonnenen Eindruck. Dass es eine Zeit gab, in der er weder ein noch aus wusste, merkt man ihm nicht an.
Wie der Tischler den Wald wiederentdeckte
Dort, wo er lebt, ist der Wald in wenigen Schritten erreichbar. „Wenn wir als Kinder spielen wollten, sind wir in den Wald gegangen. Meine Verbindung zur Natur ist daher schon immer eine sehr enge gewesen“, sagt der 50-Jährige und streift dabei mit seiner linken Hand die Gräser am Wegesrand. Auf seinem Kopf sitzt ein grauer Filzhut und seine Beine kleidet eine Lederhose mit kunstvollen Verzierungen. Wir plaudern locker über seine Arbeit, Familie, das Wetter und sind schnell per Du. Unter unseren Schuhen fängt es an zu knistern, als wir den Wald betreten. Schlagartig umhüllt uns eine friedliche Stille und wir verlangsamen unsere Schritte. Es duftet nach den Terpenen, die die Bäume verströmen. Ihre beruhigende Wirkung ist sogleich spürbar.
„Ich habe Tischler gelernt. Ich wollte viel Geld verdienen, Chef sein, ein Firmenauto haben. Das habe ich dann mit 40 gehabt – und bin krank geworden“, antwortet mir Robert auf die Frage, wie er zu einem Handwerk kam, das nahezu ausgestorben ist. Das Herz und die Lunge machten Probleme, Burn-out sei die Diagnose gewesen. „Geh in den Wald, riet mir meine Frau Eva“, fährt er bedächtig fort. „Anfangs habe ich meinen Emotionen freien Lauf gelassen, viel geweint und hinterfragt. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Die Kinder waren klein, bei der Eva wurde Multiple Sklerose festgestellt und die Großmutter hatten wir noch zur Pflege im Haus.“ Wenig später begegnet Robert einem alten Pecher im Wald, den er schon länger kennt. Er beschließt, ihn eine Zeit lang zu begleiten. Nach zwei Jahren darf er das erste Mal selbst einen Baum bearbeiten.
Gold des Waldes
Zur Schwarzföhre (dt. Schwarzkiefer) hat Robert ein besonderes Verhältnis. Zum einen, weil sie extrem viel Harz produziert, zum anderen, weil sie die Landschaft in Niederösterreich seit Jahrhunderten prägt. Das natürliche Verbreitungsgebiet des Nadelbaums erstreckt sich von Südeuropa bis in die Ostalpen südlich von Wien. Weil die Schwarzföhre als anspruchslos gilt, tief wurzelt und auf mäßig nährstoffreichen Lehm-, Sand- oder sogar Kalkböden wächst, wird sie auch als Klimabaum bezeichnet. „Das ist ein besonderer Schatz, den wir hier haben, bestätigt der Pecher und setzt nach: „Der gehört gepflegt und gehütet.“ 40 Jahre und mehr, so lange schenke ihm eine Schwarzföhre ihr Harz. Danach lebe sie ganz normal weiter – vorausgesetzt, man wisse sie richtig zu behandeln.
„Ab einem Alter von 60 Jahren ist sie zum Pechen geeignet“, rät Robert. „Vorher würde ich sie in ihrem Wachstum stören.“ Er vermeidet das Wort „verletzen“, obwohl ihm bewusst ist, dass er dem Baum Wunden zufügt. Er ist sich sicher: Da er Heilmittel für Mensch und Tier aus dem Harz herstellt, verbindet sie eine respektvolle Beziehung. Als Zeichen seiner Wertschätzung geht er am Ende eines jeden Pecherjahrs zu den Bäumen und bedankt sich – zum Beispiel mit Tabak. „Das haben die Baumgeister ganz gern“, sagt er mit einem wissenden Lächeln. „Ich habe ihnen aber auch schon Rosen oder Süßes vorbeigebracht.“
Vielseitige Anwendung
Ein Pecherjahr beginnt im März/April und endet im Oktober. In dieser Zeit stattet der gebürtige Waidmannsfelder seinen Bäumen wöchentlich einen Besuch ab. Solange er nachhobelt, rinnt auch das Harz in ein am Stamm angebrachtes Häferl (dt. Gefäß). Aus dem frischen Baumsaft stellt er Salben und Seifen her, die er zum Verkauf anbietet oder als Arbeitsgrundlage für seine Seminare und Workshops verwendet. Sein Werkzeug besteht aus historischen Gerätschaften: einem Scharten- und Rindenhobel, einer kurzstieligen Hacke, einem Einstemmeisen und einem Schurz mit zwei eingearbeiteten Spitzen. Letzteren benötigt der Pecher, wenn er zur Vorweihnachtszeit das Räucherharz erntet.
„Ab Oktober braucht der Baum sein Harz für den Winter, dann höre ich auf mit dem Hobeln“, erklärt er und fährt mit der Hand sachte über die Rinde. Jetzt hockt er auf dem Waldboden und hat sich zu Vorführungszwecken den Schurz umgebunden. Behutsam schabt er das angetrocknete Harz von der Stelle, die bearbeitet wurde. Schließlich winkt er mich zu sich heran, greift in die herabgefallene, krümelige Masse und streckt mir seine Hände entgegen. Das Harz duftet süßlich nach Kräutern, Holz und einem Hauch Menthol – und es hinterlässt einen ziemlich klebrigen Film an den Händen. Um es als Räucherharz zu verwenden, muss es zwei Jahre an der Luft durchgetrocknet werden, erklärt mir Robert. In dieser Zeit verflüchtigen sich die ätherischen Öle, sodass das Harz nicht mehr entflammbar ist. Im vorelektrischen Zeitalter soll man sich diesen Effekt wiederum für Fackeln zunutze gemacht haben. Faszinierend der Gedanke, dass Menschen seit Jahrtausenden vom Baum als Roh- und Werkstoff auf vielfältige Weise profitieren.
Zu Dank verpflichtet
Wir stehen mittlerweile vor einer kolossalen Schwarzföhre mit gezwieseltem (dt. gegabeltem, gespaltenem) Stamm. Der Pecher schätzt ihr Alter auf 200 bis 300 Jahre. Mit dem Zeigefinger fährt er mehrere dunkle Linien am Stamm ab und erläutert: „Anhand der Einkerbungen kann man sehen, wie viele Jahre der Baum von Pechern bearbeitet wurde. Dieser hier ist das letzte Mal vor 50 Jahren gepecht worden – so alt, wie ich heute bin. Ein bisschen Harz kommt immer noch raus.“ Beim Anblick dieses standhaften Zeitzeugen überkommt uns eine feierliche Stimmung. Was diese Kiefer wohl schon alles erlebt, gehört, gesehen haben muss, frage ich mich. „Eigentlich müsste man vor diesem Baum niederknien“, unterbricht Robert die Stille. „Er lehrt uns so viel über Dankbarkeit und gegenseitigen Respekt.“
Zurück zu Hause gebe ich ein Stück getrocknetes Harz, das ich als Erinnerung mitgenommen habe, in ein Stövchen und entzünde ein Teelicht. Es braucht nur wenige Minuten und ich bin wieder mitten im Wald.