Weise Frauen, so wurden früher geachtete Kräuterkundige genannt, waren über Jahrhunderte unersetzlich in Dorfgemeinschaften. Für ihre Tätigkeiten als Ratgeberinnen, Hebammen oder Apothekerinnen eigneten sie sich umfassende Kenntnisse über die Natur an. Sie prüften Pflanzen und deren Wirkung systematisch und kannten die besten Sammelplätze. Ihr Wissen um die Verwendung von Heilgewächsen bei Krankheiten oder anderen Wehwehchen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. „Jedes Tal, jedes Dorf oder sogar jede Familie hatte unzählige Rezepte und es entstand das große Gebiet der Volksmedizin“, erfährt man aus dem Buch „Rebel Plants“ der Kräuterpädagogin Valerie Jarolim.
leben mit der kraft von kräutern
Wie kam es, dass die Weitergabe von Kräuterwissen vor allem Frauensache war? Helga Bauer von der Kräuterfarm Bauer hat dafür eine einfache Erklärung: „Die Kindererziehung war damals Aufgabe der Frauen. Wenn ein Kind krank war, konnte man aus verschiedenen Gründen nicht immer zum Arzt laufen. Da machte man einen Umschlag oder einen Tee.“ Die über 80-Jährige hat noch heute immer einen selbst hergestellten Hustensaft oder eine heilende Salbe im Haus.
Die besondere Verbindung zur Natur reicht noch weiter zurück. Schon in der Steinzeit waren es hauptsächlich weibliche Stammesmitglieder, die Beeren, essbare Pflanzen und Wurzeln sammelten. „Auch bei den späteren mitteleuropäischen Kulturen wie den Germanen oder Kelten sorgten Frauen mit ihrem Pflanzenwissen für das Wohl von Mensch und Tier“, weiß Gerda Holzmann, die das Qualitätsmanagement bei SONNENTOR leitet. Bei jeglichem Leiden seien sie zur Hilfe gerufen worden. Kein Wunder, dass die eine oder andere Kräuterexpertin sogar Kultstatus genoss.
Heilige Hildegard von Bingen: Kräuterheldin mit Visionen
Über kaum eine Frau des Mittelalters weiß man so viel wie von Hildegard von Bingen. Die Universalgelehrte und Heilige verschriftlichte im 12. Jahrhundert das volksmedizinische Wissen ihrer Zeit und verknüpfte es mit der Klostermedizin. Ihre Bücher wurden weit verbreitet und sie erlangte als Ratgeberin mächtiger Persönlichkeiten große Bekanntheit.
Noch heute dient Hildegard von Bingen vielen als Inspiration. „Ich stöbere gerne in alten Kräuterbüchern und entdecke dabei Erstaunliches“, verrät Valerie Jarolim. Für ihre Kräuterspaziergänge und Workshops in Wien und Oberösterreich sucht sie regelmäßig neue Impulse. „Viele Dinge passen aber für mich nicht mehr in die heutige Zeit – sei es aus wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Sicht“, gibt sie zu bedenken. Helga Bauer kann das bestätigen: „Hildegard von Bingen ist schwer zu verstehen für die Jugend.“ Die erfahrene Bäuerin greift selbst lieber auf ein Buch der Kräuterexpertin Maria Treben zurück, wenn sie etwas nachschlagen möchte: „Die hat das Kräuterwissen in unsere Zeit übersetzt.“
Pflanzliche Medikamente vs. synthetische Arzneimittel
Schattenstunde der gefeierten Kräuterfrauen stellt die Hexenverfolgung ab dem 15. Jahrhundert dar. Von nun an mussten sie als Sündenböcke für jegliches Leid und Unheil herhalten. Das hatte zur Folge, dass ihr Wissen zunehmend in Vergessenheit geriet. Im 19. Jahrhundert wurde zudem mit dem synthetischen Nachbau pflanzlicher Inhaltsstoffe experimentiert. 1884 kam schließlich eines der bekanntesten Schmerzmittel in den Handel: Aspirin. Als Vorbild für dessen Herstellung diente die Weidenrinde. Waren Arzneimittel zuvor in Apotheken individuell angefertigt worden, traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts industrielle Fertigpräparate ihren Siegeszug an.
Doch schon kurze Zeit später wurde diese Entwicklung unterbrochen. Die Folgen des Ersten Weltkriegs wie der allgemeine Gütermangel führten dazu, dass man sich schon bald wieder auf den heimischen Heilpflanzenschatz besinnen musste. Hier trat Maria Treben auf den Plan. Als Vorreiterin der österreichischen Naturheilkunde und Autorin mehrerer Bücher erlangte sie weltweit große Bekanntheit. Bis 1987 hielt Maria Treben regelmäßig Vorträge vor Tausenden von Zuhörer:innen im In- und Ausland.
Krisenfest und selbstbestimmt
Heute ist die Anwendung von Heilpflanzen wieder anerkannter Teil der Medizin. Ob Phytotherapie oder Kräuterpädagogik: Seit einigen Jahren werden die vielfältigen Möglichkeiten, die die Natur bereithält, wieder neu entdeckt. Interessanterweise sind es vor allem junge Menschen, die diesen Trend befeuern. „Wir haben uns bisher darauf verlassen, dass Dinge jederzeit verfügbar sind. Die Krisen der letzten Jahre haben verdeutlicht, wie bequem, aber auch fremdbestimmt wir gelebt haben“, sagt Maria Schmidt.
Zusammen mit ihrem Mann führt sie seit 35 Jahren den Biohof Schmidt. Inzwischen sind auch ihre beiden Kinder mit eingestiegen. „Die junge Generation besinnt sich mehr denn je auf die Natur und sucht nach Alternativen“, stellt die Landwirtin aus Neudorf fest. Dazu gehöre auch ein gesteigertes Ernährungsbewusstsein.
Die Natur als Innovationsquelle
Digitale Transformation, hoch spezialisierte Labore, virtuelle Realitäten: Tiefgreifende Umbrüche haben immer schon starke Gegenbewegungen hervorgerufen. „Wenn man sich mit Kräutern beschäftigt, tut man das automatisch auch mit den eigenen Wurzeln. Danach sehnen sich viele Menschen“, hat Gerda Holzmann beobachtet. Für die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente ist die pflanzliche Vielfalt weiterhin eine wichtige Ressource. Weltweit werden ca. 70.000 Pflanzenarten als Arzneimittel in der Medizin genutzt. Bedenkt man, dass laut dem deutschen Bundesamt für Naturschutz über 330.000 Pflanzenarten bekannt sind, ist die Chance auf weitere bahnbrechende Entdeckungen ziemlich hoch.
Ob Resistenzen gegen Antibiotika oder Medikamentenknappheit als Folge von Lieferengpässen: Für Elisabeth Kainz, die einen Kräuterhof bei Waidhofen an der Thaya betreibt, liegt das neu entfachte Interesse für pflanzliche Wirkungsweisen klar auf der Hand. „Jetzt ist es Aufgabe künftiger Generationen, das alte Kräuterwissen nicht wieder verloren gehen zu lassen“, betont sie.